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Aachen wurde der Testfall für alle Probleme, denen die alliierte Besatzungsherrschaft in Deutschland gegenüberstand. In der stark zerstörten Stadt ging es erst einmal um Fragen wie Ernährung, passierbare Straßen und die Unsicherheit der verbliebenen Einwohner, ob Front und NS-Herrschaft wirklich nicht zurückkommen würden – einige Tage lang sah es Ende Dezember 1944 genau danach aus. Die Hauptpriorität der US-Militärregierung und ab Juni 1945 ihrer britischen Nachfolger lag neben Alltagsfragen darin, Täter und Funktionäre des NS-Regimes festzusetzen, seine Institutionen aufzulösen… und der Frage nachzugehen, wie weit die Verflechtungen des „Dritten Reichs“, seiner Ideologie und seiner Verbrechen mit der deutschen Gesellschaft, ihren traditionellen Instanzen und Akteuren reichten.

Der Bildungsbereich musste sich erst einmal hintenanstellen – nicht zuletzt, weil Schulen und Universitäten aus angloamerikanischer Sicht massiv dazu beigetragen hatten, die Deutschen kriegsbegeistert und menschenverachtend zu machen, und zwar schon vor 1933. Sogar mit Schulen ohne Fensterscheiben und Heizwärme, Hefte oder Kreide konnte man (wie sich später zeigte) irgendwie arbeiten; das Problem, welche überlebenden Lehrkräfte und Bücher nicht heillos durch Militarismus und totalitäre Ideologie korrumpiert waren, bereitete deutlich mehr Kopfschmerzen.

Dennoch hatte Aachen früher als andere Städte nicht nur Zeitungen und offene Banken, sondern auch ein aktives Schulsystem. Das teils ausgebrannte, teils eingestürzte Gebäude des KKG stand zunächst weiterhin leer, weil es kein Reparaturmaterial gab. Im Oktober 1945 eröffnete der neue Direktor Dr. Peter Schmitz – erzkatholischer Veteran des KKG-Kollegiums mit dem Vorteil, formal wie in der Sache als unkompromittiert zu gelten – den Unterrichtsbetrieb mit 165 Schülern in den Räumen des heutigen Sitzes der Philosophischen Fakultät der RWTH in der Kármán-, der damaligen Vinzenzstraße. Ein Jahr später hatte sich die Schülerzahl durch Heimkehrende, entlassene Kriegsgefangene und Flüchtlinge mehr als verdoppelt; mit der zeittypischen Mischung aus Improvisation, Plündern und einflussreichen Kontaktpersonen überstand die Gemeinschaft der Unterernährten die schlimmste Phase der Nachkriegszeit. Im September 1948 zog sie, schon wieder über 600 Köpfe stark, in die notdürftig bewohnbaren und noch notdürftiger reparierten Gebäudeteile am Augustinerbach ein.

Schule als moralische Zukunftsversicherung

Die Verwaltung der britischen Besatzungszone neigte zur Auffassung, das katholische Milieu habe sich grundsätzlich eine Distanz zum NS-Staat bewahrt; der aufkommende Ost-West-Gegensatz verlieh der kirchlich-konservativen und damit gleich zweifach antikommunistischen Linie weiteren Auftrieb. Noch vor Entstehung der Bundesrepublik Deutschland war schon das 1946 gegründete Nordrhein-Westfalen durch die neue CDU geprägt, die erst 1967 endgültig die Regierung abgeben sollte; die früher Bonner Republik war von Funktionären und Forderungen beider Kirchen – mit einem markanten Vorsprung der katholischen Bischöfe – so stark beeinflusst wie noch keine gesamtdeutsche Zentralregierung.

Die neue Sicht auf die letzten Jahre lautete gerade im Rheinland: Dämonische Kräfte hatten mit den Mitteln der gott- und traditionslosen Moderne (unter Mitwirkung des nun aufgelösten protestantischen Preußen) Millionen Unschuldiger auf mysteriöse Weise gelähmt und irregeführt. Überproportional oft verwies man auf die „Verführung der Jugend“ zur Missachtung von Eltern und pädagogischen Ersatzvätern – dass der NS-Staat deren Autorität ganz für sich gewollt hatte, war dabei zweitrangig. Die Gestapo, jugendliche Widerworte und die Kriegszeit als angebliche Phase des sexuellen anything goes verschmolzen zu ein und derselben „Unmoral“. Dementsprechend lautete das Rezept, Kinder und Jugendliche mindestens so streng zu erziehen wie vor dem Krieg (und die Prügelstrafe in den Schulen, ein Erbe der NS-Gesetzgebung, blieb bestehen). Die tonangebende Strömung der Nachkriegsgesellschaft sprach und handelte in Familienfragen bedenkenlos autoritär – in der Überzeugung, so der nächsten Diktatur, diesmal unter Hammer und Sichel, vorbeugen zu können und ihre Kinder nicht wieder sterben sehen zu müssen.

Das KKG verschrieb sich in der Zeit von Wiederaufbau und unerwarteter Nachkriegskonjunktur dieser Geschichtsdeutung geradezu offiziell. Der Schock des Bildungsbürgertums wie der Lehrerschaft, jüngst aus der Deutungshoheit in die Bedeutungslosigkeit verdrängt worden zu sein, saß tief. Man setzte ganz auf Tradition und den Ruf zur inneren Umkehr; schon zum 350. Schuljubiläum 1951 verkündete Schmitz in der (für damalige Verhältnisse glanzvollen) Festschrift, letztendlich hätten die gott- und kulturlosen Techniker das NS-Regime getragen und hätte das von ihnen verachtete humanistische Gymnasium Deutschland retten können. Das war nicht ganz so selbstgerecht, wie es klingt – die nahe RWTH mit ihrer einst tiefbraunen Studentenschaft und etlichen Dozenten vom gleichen Schlag blieb jahrzehntelang ein notorischer Rückzugsraum für großdeutsche Nostalgiker. Giftige Kommentare sind das Mindeste, was sie verdienten. Doch am KKG setzte sich umgekehrt die Überzeugung durch, ein Hort des Widerstands gewesen zu sein, in dem ganz wenige regimegläubige Lehrer geradezu herausgestochen seien; dieser Mythos ist an die Stelle der Aufarbeitung getreten.

Die Agenda, Schüler wie Eltern zu beschützen, indem man der Jugend keinen Freiraum ließ, war von Anfang an aber nie die Sache aller Verantwortlichen – und noch weniger lückenlos umsetzbar. Eingezogene Oberstufenschüler, ehemalige Flakhelfer, Kriegskinder aus dezimierten oder Vertriebenenfamilien waren früh und gewaltsam in die Alltagsverantwortung katapultiert worden. Auch ihre im Frieden aufwachsenden Nachfolger senkten nicht immer die Köpfe. Das Ideal der Bravheit durch Zwang – buchstäblich auf Biegen und Brechen – hatte aber in einer Gesellschaft zerstörter Städte, erzwungener Ortswechsel, verunsicherter Männer und erschütterter Überzeugungen zu oft seine Reize… und einen hohen persönlichen Preis.

Rückkehr zu alten Gewissheiten?

Nach wie vor war das KKG eine eminent katholische Schule. In den Jahren nach dem Krieg gab es eine große Welle persönlicher wie kollektiver Frömmigkeit, von Ordenseintritten und Entscheidungen für den Priesterberuf – teils unter dem Eindruck der Kriegsereignisse, teils als Schutz suchende Antwort auf die Sinnkrise danach. Beim reinen Blick auf die Zahlen konnte man das als Heraufziehen jenes lang ersehnten geschlossenen Milieus missdeuten, das staatliche Vormachtansprüche und die Herausforderungen der Moderne draußen halten sollte. Auch jetzt entstand es nicht – und das konservative Bürgertum, dem es sympathisch war, wurde schnell zu einer unter vielen Optionen der neuen Mittelschicht, die vom aufkommenden Wohlstand seit den späten 1950ern profitierte.

Interessant ist, wie bruchlos man in Aachen nun an die Vergangenheit vor 1914 anzuknüpfen suchte – mit dem KKG als Inbegriff bürgerlicher Kontinuität, als Weitergabe des (wieder) Erreichten und der (moderat demokratisch überarbeiteten, nun aufs Abend- neben dem Vaterland verweisenden) Traditionen an die nächste Generation, als Ausbildungsstätte künftiger Juristen, Lehrer und Professoren, vor allem aber zahlreicher Geistlicher, dazu einiger Kaufleute. Bald nahm der Ehemaligenverein seine stark nostalgisch gefärbten Treffen wieder auf. Neuer Vorsitzender wurde kein anderer als Adenauers Kanzleramtsminister Hans Globke, dessen rückwirkende Mutation vom langjährigen Mitwirkenden an der antisemitischen NS-Gesetzgebung zur Stütze der Gesellschaft ein markantes Beispiel für die Tendenz der 50er Jahre war, bei nützlichen Experten nicht zu genau hinzuschauen. Im Publikum saßen gläubige Mediziner, die an Zwangssterilisierungen mitgewirkt hatten, und langgediente Bürokraten oder Richter neben einigen ehemals Verfolgten. Ob der Nachbar kirchlich-konservativ, nationalkonservativ oder Hitlerbegeisterter a.D. war („Nazi“ war jetzt ein selten vergebenes Prädikat, Mitte-Links-KKGer bleiben weiterhin eher Exoten), das teilte man einander spitzzüngig mit, machte aber kein öffentliches Thema daraus.

Auch draußen herrschte ein paradoxes Bild. Das öffentliche Interesse am Heimatkundeunterricht und an alten Straßennamen ging Hand in Hand mit dem Bedürfnis, die zugehörige Stadt, soweit erhalten, durch zeitgemäß schnörkellose, zentralgeheizte Bauten an autogerecht verbreiterten Straßen zu ersetzen. Auch nach Reparatur der größeren Bombenschäden war das KKG, dessen Nebengebäude zerstört waren, in permanenter Raumnot, kam aber nicht in den Genuss des Baubooms – wieder einmal wollte die Stadt Aachen keine großen Summen investieren, auch weil man darauf hoffte, die vielen überlebenden Altbauten der Umgebung eines Tages, wenn die Wohnungsnot vorbei war, schlicht abräumen zu können. Obendrein kam der Nachkriegsboom zwar auch im Westen an und gab Aachen sich ein neues europäisches Image, doch lange Jahre blieben die Grenzen der Nachbarländer wenig durchlässig. Als die Bewegungsfreiheit wieder wuchs, standen die ökonomischen Lebensgrundlagen der Stadt schon unter neuem Druck: Vielen Branchen ging es bestens, aber die riesige Tuchindustrie schwächelte und selbst die unverzichtbare Steinkohle der Region, um die jüngst noch Kriege geführt worden waren, verlor an Glanz.

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