Mit dem Kriegsausbruch begann für Aachen ein emotionales Wechselbad: während des Überfalls auf Polen Skepsis und Angst als dünn verteidigte Grenzstadt, für die Evakuierungspläne bereitlagen, in den Monaten darauf der Aufmarsch der Truppen, welche Belgien und die Niederlande überrollen sollten. Die unverhofft schnellen Erfolge der Wehrmacht sorgten im Mai und Juni 1940 auch bei denen für verhaltene Euphorie, die eine Revanche für 1918/19 als wünschenswert ansahen, denen aber der nationalsozialistischen Herrschaftsstil missfiel.

Ein Großteil der klassischen KKG-Klientel fiel in diese Gruppe, ihre Kinder nicht unbedingt. Anfangs lieferte der Krieg viele romantisierbare Abenteuergeschichten im Verhältnis zu den eigenen Verlusten, wenn man nicht zu genau hinsah. Die Indoktrination in Jungvolk und HJ, durch die Medien, die Unterrichtsmaterialien und etliche Lehrer zeigte Wirkung. Gleichzeitig betonten sich Schulleitung und Kollegiumsmehrheit teils von sich aus stärker die Rolle als katholische Schule, teils wurden sie durch eine feindselige Außenwahrnehmung als „klerikal“ und bürgerlich-elitär dorthin gedrängt. Dem prominentesten Teil der Elternschaft, Honoratiorenfamilien und gehobenem Bürgertum war das nur recht; die antikirchliche Strömung im NS-Regime schwoll seit 1937/38 an, noch dazu lieferte der Krieg immer neue Vorwände, um Gottesdienstangebot und kirchliche Aktivitäten einzuschränken, von Drohungen, Repression und Terror gegen missliebige Akteure im Katholizismus abgesehen – die Konzessionspolitik Roms und der Bischofskonferenzen seit 1933 war zu weiten Teilen gescheitert. Noch vor den ersten militärischen Misserfolgen fühlten sich auch nationalkonservative Aachener Katholiken ernüchtert.

Vordergründig begann vieles wie 1914: Rationierungen, Notprüfungen, Einberufungen von Lehrern, Abiturienten und Angehörigen, Wehrmachtswerbung in der Schule. Doch die Unterschiede waren unverkennbar. Auf Kosten des besetzten, bald schon hungernden Europa blieben in Hitlers Reich die Rationen ungleich besser; umgekehrt war der paramilitärische Drill ebenso allgegenwärtig wie die Gefahr aus der Luft. Viele Schülerfamilien wohnten bald Haus an Haus mit Zwangs- und Sklavenarbeitern, die keineswegs nur unsichtbar in Barackenlagern am Stadtrand lebten; andere konnten von ihrem Fenster aus sehen (wenn sie wollten), wie die Judenhäuser mit Nachbarsfamilien und einstigen Schulkameraden vollgestopft wurden – ehe man sie mäßig unauffällig verschwinden ließ. 1940 war der letzte jüdische Schüler zum Verlassen des KKG gezwungen worden.

Kindersoldaten

Mitten auf dem Weg von England zum Ruhrgebiet bot Aachen sich als Ziel für Ablenkungsmanöver oder verspätete Abwürfe heimkehrender Bomber an. Der Verkehrsknotenpunkt produzierte obendrein vom Feinmechanik und Uniformen über Autoreifen und Gasmasken-Sichtgläser bis hin zu Konserven allen möglichen Armeebedarf. Entsprechend häufig heulten die Sirenen. Lange vor dem ersten größeren Angriff am 10. Juli 1941 hatte es schlaflose Nächte gegeben. Wer das konnte, verbrachte sie im Umland – bevorzugt in den besetzten Gebieten, die seltener angegriffen wurden.

Ende Januar 43 wurde die Einberufung der 15-17-Jährigen als Luftwaffenhelfer verfügt. Direktor Dresen stand ganz auf der Seite zahlreicher protestierender Eltern, während die betroffenen Schüler anfangs teils in Abenteuerstimmung waren, teils zumindest den Unterrichtsausfall begrüßten. Weil in den Flakstellungen rund um Aachen der Unterricht stark gekürzt weiterlief, hatten die Jugendlichen vom KKG den Vorteil, dank ihres Lehrplans mit Latein und Griechisch zusammenbleiben zu können – wurden umgekehrt aber Zielscheibe für die Schikanen von Unteroffizieren und einigen Gleichaltrigen, nicht ohne mitunter selbst die Nase etwas hoch zu tragen. In die langen Tage mit Unterricht und Hausaufgaben, Drill und Militärroutine mischten sich immer mehr Alarme, die leicht sechs oder sieben Nachtstunden rauben konnten. Aus Wut, nach einer weiteren Alarmnacht zum Lernen aufstehen zu müssen, ließen die KKG-Flakhelfer in der Beverau eines Tages den unerbittlich angereisten Lehrer vorsätzlich im Kalten sitzen; er starb bald darauf an einer Lungenentzündung.

Dresen, „Verbindungslehrer“ zur Luftwaffe für alle Aachener Schüler, trug Briefduelle um Ersatzschuhe für die Lehrer aus, die per Fahrrad zu den Stellungen hinausfuhren, oder forderte vergeblich mehr physische Schonung der übermüdeten Teenager ein. Um Konkurrenz in Disziplin- und Autoritätsfragen ging es dabei ebenfalls; die Entrüstung, Unteroffiziere im Lehrerzimmer über die Versetzung beraten zu hören, war groß, ebenso die Provokation, als ein Feldwebel die Jungen mit einem Lied, in dem das Wort „Popo“ vorkam, zum Sachunterricht in die Schule marschieren ließ. Die Freiheit, sich ein ganzes Stück selbstbewusster benehmen zu können, wurde durchaus geschätzt und gegen Lehrer wie HJ-Funktionäre verteidigt, ihr Preis – Lebensgefahr und die Konditionierung für den Krieg – erst langsam wahrgenommen. Andererseits gingen Jugendliche aus ihren Stellungen zur nächsten Sonntagsmesse, auch ohne Erlaubnis; hier war man sich mit Dresen einig, unter dessen Nase sich illegal eine Gruppe der katholischen Jugendorganisation „Bund Neudeutschland“ weiter traf.

Das tägliche Zusammenleben mit zum Dienst gezwungenen sowjetischen Kriegsgefangenen und wallonischen Altersgenossen – viele Schüler aus dem annektierten Teil Belgiens erhielten außerdem regulären Unterricht am KKG – konnte ebenfalls nachdenklich stimmen, erst recht die ersten eigenen Toten.

Zerstörung

Dresens Geschick als Behördentaktiker zahlte sich aus, als der große Angriff vom 14. Juli 1943 Entsetzen und Fluchtbewegungen in Aachen auslöste. Die Eltern des KKG, dessen Kirche ausgebrannt war, protestierten so energisch, dass ihre Kinder dablieben, als im September zahlreiche Gleichaltrige zwischen 10 und 14 mit der „Kinderlandverschickung“ aus der Stadt in entlegene Regionen transportiert wurden. Auch war die von KKG-Luftwaffenhelfern bemannte Batterie nicht unter denen, die – gegen alle Zusagen – Anfang 1944 zeitweise von Aachen ins Ruhrgebiet verlegt wurden und dort unter miserablen Bedingungen wohnten; die Sonderrolle des Direktors, der gekonnt auf seine lautstarken, einflussreichen Schülereltern verwies und gegen Heldentodideen anging, wo er konnte, machte sich bezahlt.

Es gab nicht nur von den Fronten Todesnachrichten. Monat für Monat wurden seit Mitte 1943 Schüler und Lehrer wohnungslos, verloren Familienangehörige durch Bomben oder starben selbst. Die Einberufungen im Kollegium häuften sich so sehr, dass erstmals Lehrerinnen einige Lücken schlossen – in der Geschichte der männerzentrierten Schule bis in jüngste Zeit ein eher verdrängtes Kapitel. Luftalarme trieben in die Kellerräume, Trümmer versperrten den Schulweg. Knapp drei Wochen lang fiel im Februar und März 1944 mehrmals der Unterricht aus, weil Explosionen in nächster Nähe Glassplitter und Mobiliar durch die Räume verstreut hatten.

Alles Bisherige übertraf die Nacht des 11. April. Burtscheid und die Innenstadt wurden zerstört, fast alle anderen Stadtteile hart getroffen; man zählte etwa 1600 Tote, darunter viele aus der Schulgemeinde und zwei ihrer eingezogenen Flakhelfer. Der Rest des barocken Kreuzgangs und ein Großteil des Hofflügels waren eingestürzt, Dächer und Obergeschosse der noch stehenden Gebäudeteile ausgebrannt. Auch die nahe Turnhalle gab es nicht mehr. Notdürftig wurde vom Mai an in den noch benutzbaren Räumen wieder unterrichtet. Die Aufräumarbeiten im Rest der Schule blieben stecken, auch weil zwei neue Angriffe am 25. und 28. Mai auf die Umgebung der Aachener Bahnlinien Hunderte weiterer Toter forderten. Eine Anweisung zur Auslagerung der Schule verstand Dresen abzuwenden.

Dennoch gab es das KKG ab dem Spätsommer 1944 fast nur noch als Verwaltungseinheit. Das halbzerstörte Gebäude am Augustinerbach wurde sich selbst überlassen; die stetig schrumpfende Zahl der Aachener Oberschüler war in der heutigen Musikschule am Blücherplatz untergebracht, begleitet von einer Handvoll dezimierter Kollegien und Sekretariate. Dresen gelang es, einige eigene Räume in der Volksschule am Marienbongard zu bekommen, und dorthin zog man aus der „Restschule“ zum 24. 8. um, während die alliierten Truppen gerade zur Befreiung von Paris ansetzten. Viel geschah nicht mehr. Noch vor dem Evakuierungsbefehl, der am Abend des 11. September für die gesamte Zivilbevölkerung einging, brach der Unterricht ganz zusammen; unter chaotischen Umständen räumten Stadtverwaltung und NS-Funktionäre – soweit sie sich nicht als erste abgesetzt hatten – die Stadt, die inzwischen fast im Handstreich eingenommen worden wäre. Stattdessen lag sie wochenlang unter amerikanischem Beschuss und wurde dann zum Schlachtfeld. Vielleicht 6000 Menschen, fast nur Erwachsene, versteckten sich bis zum Ende der Kämpfe am 21.Oktober in den Kellern. Von rund 163 000 Einwohnern zu Kriegsbeginn waren gut 2500 Zivilisten umgekommen und fielen bis zum Kriegsende etwa 4300 als Soldaten. Verhaftete, Verschleppte, vom Regime Ermordete, Verletzte und Verstümmelte, Ausgeplünderte, in der Evakuierung Vergewaltigte und an in Friedenszeiten harmlosen Krankheiten Gestorbene entzogen sich den Statistiken. Flüchtlinge waren so gut wie alle Überlebenden.

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