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Durch den Waffenstillstand war es Aachen knapp erspart geblieben, vom Nervenzentrum zum Schauplatz des Ersten Weltkriegs zu werden. Auf die kurzen Revolutionstage und den hastigen Rückzug des Heeres folgten Einmarsch und Einquartierung der Besatzungstruppen links des Rheins. Katastrophal blieb weiterhin die Ernährung – nicht nur durch die bis zum Versailler Friedensvertrag fortgesetzte Seeblockade, sondern auch, weil das von deutscher Invasion und Besatzung gezeichnete Belgien Reparationen wollte, statt zu exportieren, und mit Eupen-Malmedy ein Großteil aller Milchprodukte wegfiel. Noch dazu drosselten Reichsregierung, Behörden und Wirtschaft im unbesetzten Teil Deutschlands jahrelang alle Lieferungen und Investitionen (sie hätten ja den Alliierten nützen können). Die Arbeitslosigkeit, durch die vielen Kriegsheimkehrer ohnehin hoch, schnellte damit weiter empor, ebenso die Wohnungsnot – für Tausende belgischer Soldaten und ihre Familien wurden Häuser in großem Stil beschlagnahmt. Das Auftreten der Belgier war demonstrativ hart, nicht zuletzt in Erinnerung an die Zerstörungen zuhause und das brutale deutsche Besatzungsregime seit 1914... das die Aachener nicht weiter registriert hatten. Man reagierte mit Gefühlen zwischen Resignation, Trotz und Hass, die sogar den verbreiteten Eindruck überboten, vom „Reich“ im Stich gelassen worden zu sein.
Zu einer Beruhigung kam es nicht. Schüler am KKG wurden in der Stadt Zeugen von Streiks und Hungerunruhen, betätigten sich manchmal als Schmuggler – durch Aachen liefen wichtige Wege für Schwarzhandel und den Tausch starker Westdevisen gegen schwache Mark – und manchmal als Kohlenklauer, wenn Züge mit Reparationsgütern durchrollten (mitten im Aachener Revier war die Kohle knapp). Zu essen hatten sie auch als Bürgerkinder längst nicht immer genug und die Klassenräume mussten sie sich jahrelang mit Schülern teilen, die von belgischen Kindern verdrängt waren (ausgerechnet die extrapreußische Konkurrenz vom Kaiser-Wilhelms-Gymnasium hatte es getroffen). Die Räume selbst wurden schäbiger – von der Heizung bis zur Kreide liefen die Unterhaltskosten den Zahlungen von Land und Kommune davon. Zuhause erlebten die Schüler demoralisierte Erwachsene, erst recht, als 1923 die Hyperinflation zuschlug und jene Ersparnisse der Mittelschicht auffraß, die nicht in Kriegsanleihen geflossen waren. Die Löhne stiegen nie so schnell wie die Preise. Väter in exponierten öffentlichen Positionen und auch einige Lehrer wurden als Strafmaßnahme der Interalliierten Kommission aus der belgischen Zone ausgewiesen. Andere mussten als Geiseln auf Reparationszügen mitfahren, besonders seit sich rund um die Ruhrbesetzung 1923 die Sabotageakte und tödlichen Anschläge gegen die Besatzungsarmeen häuften.

Ausgangssperren und „Rheinlandkampf“: Barrikaden in Straßen und Köpfen
Von der geistigen Entwicklung im Rest Deutschlands bekam Aachen nur sehr begrenzt etwas mit – und das eher durch die negative Brille. Die Gehversuche der jungen Republik, der schnelle Wechsel der Regierungen, der Streit der Parteien kamen in einer ökonomisch gebeutelten Region besonders schlecht an. Ob man dazugehören wollte, klärte sich erst mit dem Versuch, Ende Oktober 1923 mit Unterstützung der örtlichen belgischen Kommandantur eine Rheinische Republik auszurufen und in Aachen durchzusetzen. Die Innenstadt wurde zwei Wochen lang zur Kampfzone, in Hörweite des KKG war das Rathaus belagert. Nach dem Ende der blutigen Unruhen mit Straßensperren, Verschleppungen und Lynchmorden war die Option der Separatisten gründlich diskreditiert. Die immer noch tiefsitzenden antipreußischen Gefühle – die noch immer fast durchweg katholische Schulgemeinde des KKG war wie geschaffen dafür – waren nicht so stark wie die Angst, von Belgien dauerhaft einkassiert zu werden.
Die KKGer standen wie alle Kinder und Jugendlichen im Zentrum einer politischen Offensive. Lokal wie von jenseits des Rheins wurde die bewusste Erziehung zum „Deutschtum“ verlangt, das Rheinland und speziell die Aachener Region zur „Westmark“ mit Bollwerksfunktion erhoben. Selbst das Öcher Schängchen wurde 1921 keineswegs zu Unterhaltungszwecken gegründet, sondern um den Kindern einzuschärfen, dass sie samt Aachen seit Urzeiten zu Deutschland gehörten. Zur Jahrtausendfeier des Rheinlandes – die Ausstellung fand im Krönungssaal statt – gab es 1925 schulfrei. Im selben Jahr erhielt das KKG mit Aloys Billen einen aus der französischen Zone ausgewiesenen Direktor, der gut zum wachsenden nationalkonservativen Zug und der Angst vor politischem Chaos passte.
Von den schüchternen schulpolitischen Aufbrüchen der bedrängten Weimarer Republik wirkte sich wenig aus – die Prügelstrafe wurde abgeschafft, das war fast schon alles. Ansonsten hätten Schüler aus der Kaiserzeit das geistige Ambiente mühelos wiedererkannt. In der ersten Zeit nach 1918 brachte das KKG zahlreiche Kriegsheimkehrer in Sonder- und Notkursen durchs Abitur; in der Folgezeit entschieden sich vielleicht etwas mehr Abiturienten für kaufmännische, technische oder naturwissenschaftliche Wege als zuvor, schon weil die Inflation zahlreiche bürgerliche Familienvermögen aufgefressen hatte und jeder sein Geld im Zweifelsfall schneller selbst verdienen musste. Der Anteil künftiger Theologen blieb aber unverändert hoch, während der politische Einfluss der Kirche über die Zentrumspartei eher noch wuchs. Die neue Armut (im Vergleich zur wilhelminischen Zeit) ging also leicht gedämpft weiter.
Akut war die Sorge, ‚die Jugend verwahrlosen‘ zu sehen, an Verunsicherung, Gewaltszenen und die Lockungen einer kaum regulierten Medienlandschaft... nicht zum letzten Mal im 20. Jahrhundert. Als die national bis völkisch gestimmten „Deutschkundler“ in der Pädagogik es 1927 schafften, über das preußische Kultusministerium höhere Anteile von Deutsch, Geschichte, Religion und Erdkunde in die Lehrpläne zu bringen – mit Ziel, den Nationalcharakter und das Gefühl ethnischer Verwurzelung zu stärken, dabei aber auch stärkere Grenzen zum Rest der Welt zu ziehen – missfiel das sogar den klassischen Philologen nicht ganz, der tonangebenden Fraktion am KKG, die dadurch zwar Latein- und Griechischstunden abgab, aber auf die eigenen Angebote in Sachen Rückgrat und Moral verweisen konnte. Auch als die Strenge des Besatzungsregimes sich lockerte und das im Vertrag von Versailles für die Räumung Aachens festgesetzte Jahr näherkam, blieb die Stimmung in der Bildungsschicht unversöhnlich. Es wurde mehr in Grenzen gedacht als zuvor, autoritärer auch, und die Stadt kehrte ihrer Nachbarschaft innerlich den Rücken, ohne richtig zu registrieren, dass sie in den „Goldenen Zwanzigern“ lebte.

Vom Regen in die Traufe
Am 1. Dezember 1929 zogen, wie sich längst abgezeichnet hatte, die belgischen Okkupationstruppen (immer noch mehrere tausend Mann stark) aus Aachen ab. Turnvereine und Studentenverbindungen, überhaupt alles, was etwas Uniformartiges trug, marschierten als Militärersatz in einem Fackelzug auf den Markt. „Schwache Völker zählen nicht“, verkündete Oberbürgermeister Rombach – ein Mitglied des katholischen Zentrums, kein Rechtsnationalist – und beschwor Zusammenhalt und Stärke, während aus dem Einmarsch in Belgien 1914 und dessen Folgen der erfolgreiche Schutz Deutschlands und Aachens „vor den Greueln des Krieges und dem Untergange“ wurde. Man fühlte sich als Opfer und als Sieger des „Rheinlandkampfes“ zugleich in der Tradition der Kriege gegen Napoleon, wie schon die Wortwahl verriet. Vom Volk war viel, von der Republik nur ganz am Rand die Rede. Nachdenkliche Stimmen gab es sehr wenige, gerade auch im bürgerlichen Milieu des KKG. „Ihr, meine jungen Freunde, sollt einst dies Reich nach innen und außen weiter ausbauen“, gab Rombach am verregneten nächsten Abend den Aachener Schülerinnen und Schülern mit, die in einem Sternmarsch auf den Markt geführt worden waren – ein ziemlich deutlicher Auftrag, mindestens die alten Staatsgrenzen zurückzuholen und jedenfalls die Position als europäische Großmacht. Mit einer ökonomischen Blütezeit rechnete man fest.
Nach der Euphorie traf die Weltwirtschaftskrise eine Stadt, die seit Jahren eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot mit sich schleppte, doppelt hart. Bauprojekte blieben liegen, weitere Fabriken schlossen; es gab Straßenschlachten der paramilitärischen Kampfverbände aller politischen Lager. Die Feiern zur Errichtung des Bistums Aachen 1930 – das KKG, durch die institutionelle Nähe zum Domkapitel nicht rechtlich, aber faktisch eine kirchliche Schule, feierte kräftig mit – waren für lange Zeit der letzte größere Lichtblick. Autoritäre, schließlich offen demokratiefeindliche Regierungen in Berlin sendeten widersprüchliche Signale. 1932 entmachtete das Kabinett Papen die sozialdemokratische preußische Landesregierung; Verwaltungsbehörden und Kommunen sahen sich teils in einen Loyalitätskonflikt gestürzt, teils gaben sie sich der weitverbreiteten Hoffnung auf mehr Ordnung hin, die (wie so oft) in irgendeiner Form von oben kommen sollte.
Revolutionsängste lagen in der Luft, die sich auf die gut 20% Anhänger der stalintreuen Kommunisten in Aachen richteten. Etwa gleich viele gaben ihre Stimmen bei den letzten freien Wahlen den Demokratiefeinden auf der extremen Rechten, DNVP und NSDAP. Damit waren sie an den Urnen zusammen ungefähr ebenso stark wie das katholisch-konservative Milieu, so laut sie sich auf den Straßen bemerkbar machten. Ende Januar 1933, als die Nachricht vom nächsten Regierungswechsel kam, war ganz im Westen Deutschlands der Eindruck, dass mit dem Kabinett Hitler eine besondere Veränderung verbunden sei – ob zum Guten oder zum Bösen – eher die Ausnahme, beim Mittagessen wie auf dem Pausenhof.

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